Der Lesebaum von Itzehoe

Es war still geworden im Park neben dem Museum. Endlich Nacht! Eulenzeit! Jetzt musste sie in ihrer Stadt Itzehoe nach dem Rechten sehen, Altes und Neues inspizieren. Um darüber später für die Jetzt- und Nachwelt zu reporterieren.

Louise kletterte aus ihrer Baumhöhle, schüttelte sich kurz und breitete dann ihre Flügel aus. Lautlos hob sie ab. Wie in jeder Nacht flog sie einmal durch ihr ganzes Revier. Drei Schwünge Richtung Bahnhof, dann im Gleitflug nach links auf die Zirkuskuppel des Theaters. Hier machte Louise immer eine kleine Flugpause, denn von dort aus hatte sie eine guten Überblick in alle Himmelsrichtungen. Da! Was war das für ein Geräusch, ein – Keckern? Von woher…?

Schnell drehte sie ihren Kopf auf den Rücken und sah, dass bei der Rosskastanie auf dem Burgplatz etwas hin und her huschte. Eine von den drei Katzen, die dort lebten? Oder war es gar ein Neutier hier in der Neustadt? Spannend!

Mit nur einem Flügelschlag landete sie auf der Krone der Rosskastanie, lautlos. So konnte sie jetzt auch beobachten, was die Stille der Nacht gestört hatte. Es war tatsächlich ein kleines Eichhörnchen, das aufgeregt keckernd auf dem Burgplatz herum huschte. Mal scharrte es unter der Rundbank, stieß verzweifelte Pfiffe aus, dann flitzte es wieder hektisch auf den Ästen der Rosskastanie herum.

Eine Weile schaute Louise sich das Treiben an, dann flog sie auf die Rundbank und räusperte sich: „Hm Hm! Louise mein Name, Eule! Ich sehe, du suchst etwas! Kann ich vielleicht behilflich sein? Ich habe sehr gute Augen!“

„Ach ja! Ach nein! Mir kann keiner helfen, ich habe mein Buch verschusselt! Ich Schussel-Dussel!Ach, und mein Name ist Eika!“

„‘Eul nicht, Eika! Wo hast du es denn zum letzten Mal in den Pfoten gehabt?“

„Wenn ich das wüsste! Eichhörnchen müssen sich so viele Orte merken… Heute Morgen hatte ich es noch, als ich hier im Baum saß und las. Es hat einen besonderen Umschlag, blau-weiß-rot!“

„Meine Nachtaugen werden dir helfen. Warte hier!“ Und Louise flog los, inspizierte jeden Ast des Baums, jeden Winkel auf dem Platz der Burg und die Dächer der umliegenden Häuser.

Nur zwei Minuten später landete sie wieder auf der Rundbank. „Ist es vielleicht das hier?“ und mit einer eleganten Bewegung holte sie das Buch unter ihren Schwungfedern hervor.

„Bitte schön, es lag in der Regenrinne der Maschinenfabrik. Eine Elster hat es vielleicht stibitzt und dort fallen lassen? Du bist also gar nicht schusselig-dusselig!“

Eika nahm überglücklich das Buch in die Pfoten und fasste Vertrauen zu Louise.

„Weißt du, ich bin seit drei Tagen in dieser Stadt, immer an diesem Ort. Vormittags oder nachmittags kommen häufig Kinder hierher, mit Büchern. Ein kleiner, gefleckter Hund ist auch oft bei ihnen. Die sitzen dann auf dieser Rundbank und lesen. Oder ihnen wird vorgelesen, wenn sie mit ihren Eltern da sind. Sie erzählen, die Rosskastanie ist ihr Einlesebaum. Eines Tages wollen sie so viele Bücher gelesen haben, zusammen mit ihren Schulfreunden, dass alle die Buchrücken übereinandergestapelt so hoch sind wie diese Rosskastanie.

Und da ich auch Bücher mag und gerne lese, ist die Rosskastanie auch mein Lesebaum geworden, tagsüber. Leider gibt es keine Höhle im Baum als Nachtversteck für mich, da muss ich jeden Abend wieder zurück in den Pünstorfer Wald. Nur eben heute nicht, weil ich mein Buch gesucht habe!“ Eika musste gähnen.

„Müde?“ Louise machte eine einladende Bewegung mit ihrem Flügel. „Darf ich dich in meinen Park einladen? Er ist gleich in der Nähe und es gibt dort mehr als einen alten Baum mit einer Höhle. Und vielleicht kannst du mir beim Reporterieren helfen? Deine Geschichte hat das Zeug dazu. Ich sehe schon die Überschrift: Wo heute ein Lesebaum steht, war früher eine Burg! Das wird die Jetztwelt und die Nachwelt interessieren!“

„Mich interessiert auch, was es mit der ehemaligen Burg auf sich hat!“ Eikas Müdigkeit war wie weggeblasen.

„Spring auf meinen Nacken und halte dein Buch gut fest! Jetzt fliegen wir erst einmal zu den alten Bäumen in meinem Park und du suchst dir eine Schlafhöhle! Und morgen Nacht werden wir mal einen Streifzug durch das Museum unternehmen. Ich kenne eine Dachluke, die ist nur angelehnt, durch die schlüpfen wir hinein. Auf dem Dachboden liegen viele alte Urkunden und Bücher herum. Da werden wir schon etwas finden über die Burg. Zum Glück können wir beide lesen!“

Und gemeinsam flogen sie in den Park am Museum. Eika nahm den ersten besten Unterschlupf, rollte sich zusammen und schlief gleich ein, die eine Pfote auf dem Buch. Und auch Louise richtete sich zum Schlafen in ihrer Baumhöhle ein. „Ein Lesebaum in Itzehoe! Welch kurzweilige Nacht!“ Und da klappten ihre Augen auch schon zu. Oder war es nur ihr eines Auge?

Und willst du wissen, was die beiden am anderen Tag auf ihrem nächtlichen Museumsbesuch gefunden haben? Etwas zur Geschichte der Burg! Zum Glück können die beiden gut lesen, denn die Entzifferung der alten Schrift auf vergilbtem Pergament war nicht einfach.

Noch in der selben Nacht fasste Reporterin Louise dann alles für Jetzt- und Nachwelt zusammen, mit Unterstützung von Eika, die sich Notizen gemacht hatte.

Und so entstand folgender Bericht, in schönster Eulenschrift mit der Feder verfasst:

 

Wo heute ein Lesebaum steht, war früher eine Burg!

Sensation! Vor über 1000 Jahren gab es hier in Itzehoe die Burg Echeho, sie wurde auf der Halbinsel in der ehemaligen Störschleife erbaut. Es handelte sich dabei um eine Ringwallburg, der Wall war um die 7 m hoch.

Warum gerade hier eine Burg? In Itzehoe kreuzten sich Heeres- und Handelswege, neben dem berühmten Ochsenweg gab es auch den Fluss Stör zum Transport von Waren. Die Stör diente der Burganlage als natürliche Begrenzung. Um die Burg uneinnehmbar zu machen, nahm man einen Durchstich vor. Aus der Halbinsel wurde eine Insel.  So wollte man sich gegen das dänische Heer schützen.

Die Ringwallburg „Echeho“ wurde aller Wahrscheinlichkeit nach zum Vorbild für Hamburg, wo 1024 in der Alsterschleife die „Neue Burg“ entstand.

Heute gibt es die Störschleife nicht mehr und da, wo einst die Burg aufragte, stehen jetzt Häuser kreisförmig um eine Rosskastanie herum.

Achtung! Es handelt sich  bei diesem Baum um ein spezielles Exemplar, denn  er gehört zur seltenen  Art der Lesebäume und steht damit unter Kulturschutz. In Steinburg  soll es davon aber noch weitere Exemplare  geben.